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Samstag, 18. Oktober 2014

CICERO: PARADOXA II, 17

ZWEITES PARADOXON: "DIE TUGEND GENÜGT SICH SELBST ZUR GLÜCKSELIGKEIT"
(Hoti autarkes he arete pros eudaimonian)
Kap. 17 beginnt mit diesem markigen Worten:
"Du weißt nicht, Unvernünftiger, du weißt nicht, was für Kräfte die Tugend besitzt; nur den Namen der Tugend führst du im Munde, ihre Macht ist dir unbekannt."
Es folgen zwei sehr schöne interessante Gedanken:
1.) Nemo potest non beatissimus esse (Niemand kann sehr unglücklich sein; "nicht sehr glücklich sein"), qui est totus aptus ex sese (der ganz abhängend ist von sich selbst; von sich abhängig ist) quique in se uno sua ponit omnia (und der in sich als einzigen (einzig und allein in sich) all das Seine legt).
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totus aptus ex sese: ganz gemäß seiner selbst; aus sich heraus; innerlich unabhängig; mit sich übereinstimmend; selbstbestimmt
in se uno sua ponit omnia: der all das Seine in sich trägt (omnia mecum porto=ich trage all das Meine mit mir (soll von Sokrates stammen))
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"Jeder muß notwendig vollkommen glückselig sein, der ganz von sich selbst abhängt und der in sich allein alles Seinige setzt."
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MARCUS TULLIUS CICEROS PARADOXE DER STOIKER an Marcus Brutus; übersetzt und erklärt von Prof. Dr. Raphael Kühner; Berlin-Schöneberg; S. 18; in: Langenscheidtsche Bibliothek sämtlicher griechischen und römischen (sic!) Klassiker in neueren deutschen Musterübersetzungen (!); 85. Band; Cicero VIII (Cato Maior (Vom Greisenalter)-Lälius (Von der Freundschaft). Paradoxe der Stoiker.-Drei Bücher von den Pflichten. Berlin und Stutttgart 1855-1908.
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2.) Cui spes omnis et ratio et cogitatio pendet ex fortuna  (Wem seine ganze Hoffnung und Überlegung (Vernunft) und das Denken vom Geschick abhängt), huic nihil potest esse certi (diesem kann nichts "des Gewissen" sein; für den kann es nichts Gewisses geben), nihil quod exploratum habeat (nichts, was er sicher (gewiß; als Feststehendes hat) permansurum sibi unum diem (werde ihm (für ihn) (auch nur) einen einzigen Tag dauern (andauern)).
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"Wem alles Hoffnung, Berechnung und Überlegung vom Schicksal abhängig ist, für den kann es nichts Gewisses geben, nichts, wovon er mit Zuversicht wissen könnte, daß es ihm auch nur einen einzigen Tag vebleiben werde."
a. a. O., S. 18.
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habeat: Konjunktiv, da Nebensatz eines ACI; evtl. konzessiver Nebensinn: obwohl er es  als Sicheres habe/ hat...
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Und so geht's weiter:
"Triffst du einen solchen Menschen an, den magst du mit deinen Drohungen des Todes oder der Landesverweisung in Schrecken setzen; mir aber wird, was sich auch in einem so undankbaren Staate ereignen mag, so begegnen, daß ich nicht dagegen ankämpfe, ja nicht einmal mich dessen weigere. Denn wozu hätte ich mich abgemüht oder was hätte ich ausgerichtet, wozu hätte ich in Sorgen und Nachdenken die Nächte durchwacht, wenn anders ich nicht so viel gewonnen, nicht so viel erreicht hätte, daß ich mich in einem Zustande befände, den weder die Laune des Geschicks noch die Ungerechtigkeit meiner Feinde erschüttern kann?"
S. 18 f.
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ad 2) s. auch TUSKULANEN V, 12 u. 36:
"nam cui viro (denn welchem Manne)...ex se ipso apta sunt omnia (alles aus sich selbst entspringend; von sich selbst abhängig; "aus sich selbst bereit gestellt ist"; Olof Gigon), quae ad beate vivendum ferunt (was zum "glücklich Leben" führt (leitet); welche Dinge...führen (Plural!); zum glückseligen Leben), nec suspensa aliorum aut bono casu aut contrario (und nicht, "abhangend"=beruhend (Stowasser; S. 481) entweder auf dem guten Schicksal=Glück anderer oder auf dem Gegenteil=Unglück; weil/ dadurch daß es nicht...beruht; "und dies nicht angehängt ist an das Glück und das Unglück Anderer"; O. Gigon) pendere ex alterius eventis et errare coguntur (und gezwungen wird von den Erfolgen (vom Gelingen; Geschick) eines anderen abzuhängen (abhängig zu sein) und ("mit ihnen") zu irren), huic optume vivendi ratio comparata est (dem ist die Beschaffenheit des Lebens (Art und Weise des Lebens; Lebensweise) bestens (aufs Beste) "bereitet" (eingerichtet)).
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Alles klaro?
tribunus

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