KASUSLEHRE (1): DER GENITIV
Folgende DEFINITION steht im "MENGE":
"Der Genitiv, welcher im Lateinischen wie im Deutschen meistens auf die Frage 'wessen?' steht, wird im allgemeinen gebraucht, um zu einem nicht vollständig bestimmtem Begriffe die Ergänzung hinzuzufügen, rücksichtlich welcher der Begriff gedacht werden soll (Ergänzungskasus). Hauptsächlich und ursprünglich dient der Genitiv dazu, den Begriff eines Substantivs näher zu bestimmen; in einigen Fällen wird er auch dazu verwandt, um Adjektive und Verben näher zu bestimmen."
STEHLE unterscheidet, wie folgt:
1.) Der Genitiv als attributive Bestimmung: wessen? was für ein?
2.) Der Genittiv als prädikative Bestimmung (adverbaler Gebrauch)
3.) Der Genitiv als Ergänzung
ad 1)
a) genetivus possessivus: Besitzer
villa Ciceronis=das Landhaus Ciceros
autovehiculum Caesaris=das Auto Caesars
genetivus auctoris: Urheber
oratio Catonis=eine Rede Catos (Cato ist der Urheber der Rede!)
b) genetivus explicativus (epexegeticus, appositivus): Inhalt eines Begriffes wird erklärt
MENGE: "...einen solchen Gen., der einem allgemeinen Begriffe einen besonderen (dem Genus eine Species) als nähere Bestimmung beifügt, der sich demnach erklärend an das regierende Nomen anschließt und so die Stelle einer Apposition oder eines verkürzten Satzes vertritt, z. B. Pericula mortis atque exilii 'Gefahren, nämlich Tod und Verbannung'".
vitium ignaviae=das Laster der Trägheit (bei Schülern weit verbreitet!)
monstrum hominis=ein Scheusal von einem Mensch
miraculum audaciae=ein Wunder von Kühnheit
Beim MENGE finden wir auch folgenden "schönen" Satz:
Semper eum duo genera lenonum et latronum delectarunt.=Immer erfreuten ihn (fand er Gefallen an) zwei Menschenklassen, nämlich Kuppler (Zuhälter) und Banditen. (Bad company!)
STEHLE bringt u.a. dieses Beispiel:
vox laboris=das Wort "Arbeit" (dem heutigen Schüler weitgehend unbekannt); ich möchte hier "terribilis" hinzufügen (si placet)
c) genetivus qualitatis: Eigenschaft, Art, besonders bei Maß-, Zahl und Wertangaben
MENGE: Beschaffenheit, Eigenart eines Gegenstandes
vir magnae sapientiae=ein Mann von großer Weisheit (keiner von meinen Schülern ist hier gemeint!)
fossa pedum quindecim=ein Graben von 15 Fuß
iter unius diei=der Weg (Marsch, Reise) eines einzigen Tages=ein Tagesmarsch; eine Tagesreise
STEHLE: puer decem annorum=ein Junge von 10 Jahren; ein zehnjähriger Junge
eigenes Beispiel: puer undecim annorum=ein Junge von elf Jahren (beliebig fortführbar!)
d) genetivus partitivus
STEHLE: "das bestimmte Ganze, zu dem etwas als Teil gehört"
pars urbis=ein Teil der Stadt
maior fratrum=der ältere der Brüder
optimum vinorum=der beste der Weine, unter den Weinen
MENGE: "das Ganze, von welchem ein Teil genommen ist oder hervorgehoben werden soll"
pars militum=ein Teil der Soldaten
magnus numerus civium=eine große Zahl (Anzahl) (der) Bürger (von Bürgern)
multi equitum=viele Reiter (Ritter)
Dazu gehöre im weiteren Sinne auch der "genetivus generis oder materiae": Stoff
magna vis auri=die große Macht des Goldes
grex ovium=die Herde der Schafe (meine Nachbarn!)
Secundum MENGE steht der "gen. partitivus" bei
d 1) Substantiven der Quantität und des Maßes:
magna pars navium=ein großer Teil der Schiffe
d 2) Komparativen und Superlativen:
Omnium oratorum praestantissimus fuit Demosthenes.=Der beste aller Redner war Demosthenes.
d 3) bei Zahlwörtern; bei substantivisch gebrauchten Pronomina:
tertius regum Romanorum=der dritte der römischen Könige
Quis mortalium sine vitiis natus est?=Wer unter (von) den Sterblichen ist ohne Fehler geboren?
d 4) bei substantivisch gebrauchten Neutra von Qualitätsadjektiven und Pronomina:
STEHLE: tantum spei=so viel Hoffnung
MENGE: Exordium plurimum gravitatis debet habere.=Die Einleitung muß sehr viel Gewicht (Bedeutung, Würde) haben.
d 5) bei substantivischen Adverbien:
"satis eloquentiae, sapientiae parum" (SALLUST über CATILINA; CONIURATIO CATILINAE 5, 5)=genug Beredsamkeit, der Weisheit zu wenig (CHIASMUS)
d 6) bei Ortadverbien:
Ubi terrarum sumus?=Wo in aller Welt sind wir?
e) genetivus obiectivus:
STEHLE: "Der Genetiv bezeichnet bei Substantiven, die eine Empfindung oder Tätigkeit ausdrücken, die Person oder Sache, auf die die Empfindung oder Tätigkeit gerichtet ist."
metus dei=die Furcht vor Gott; Gottesfurcht
amor matris=die Liebe zur Mutter
spes salutis==die Hoffnung auf Rettung
MENGE: "Der Genitivus obiectivus, welcher das (nähere oder entferntere) Objekt bezeichnet, auf welches die in dem regierenden Substantiv ausgedrückte Thätigkeit gerichtet ist oder sich erstreckt, hat ein außerordentlich weites Gebiet und vertritt präpositionale Verbindungen aller Art."
studium litterarum=das Streben nach der Wissenschaft (nach den Wissenschaften; nach Gelehrsamkeit); Beschäftigung mit den Wissenschaften etc.
(ich ergänze: ist meinen Schülern völlig fremd!)
dubitatio veritatis=der Zweifel an der Wahrheit (ich ergänze: kann einem bei vielem kommen)
invidia Ciceronis=der Neid (Haß) auf Cicero
Addendum: MENGE:
"Den (objektiven) Genitiv regieren die Adjektive, welche zu den Begriffen begierig, kundig, eingedenk, teilhaftig , mächtig, voll oder deren Gegenteil gehören."
plenus vini=voll des Weins!
STEHLE: cupidus gloriae=ruhmbegierig, ehrgeizig (nicht meine Schüler!)
(Ich höre heute noch meine "alte" Lateinlehrerin Fr. OSTRn. M. Metternich (Gymnasium Gernsheim am Rhein, 1971-76) sagen: "Begierig, kundig , eingedenk, teilhaftig, mächtig, voll-regieren stets den Genitiv und wer's nicht glaubt ist doll (voll)!")
f) genetivus subiectivus:
MENGE: "Der Gen. subiectivus (possessivus und auctoris) ersetzt nicht nur manche deutsche Präpositionen, sondern bietet auch durch seine Kürze und Präcision (sic!) sehr oft die geeignete Aushülfe (sic!) für vollständige Verbalwendungen und relative Sätze."
sententiae septem sapientium=die Meinungen (Aussprüche) der sieben Weisen
terror belli=der Schrecken des Krieges
STEHLE: amor matris=die Liebe der Mutter: mater amat=die Mutter liebt
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Also: Lernen!
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HERMANN MENGE: REPETITORIUM DER LATEINISCHEN SYNTAX UND STILISTIK, Darmstadt 1979 (Wissenschaftliche Buchgesellschaft).
Kaufen! Durchlesen!
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HERMANN MENGE: 1841-1939
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The SIR
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