DIE EREIGNISSE IN GERMANIEN (11): TACITUS: AB EXCESSU DIVI AUGUSTI I, 66:
An den langen Brücken
Forte (Durch Zufall; zufällig) equus abruptis vinculis vagus (ein Pferd, nachdem es die Fesseln zerrissen hatte, herumrennend; ein Pferd, das durchging, nachdem...) et clamore territus (und durch den Lärm erschreckt) quosdam occurrentium obturbavit (brachte einige der Entgegenlaufenden in Verwirrung; rannte sie über den Haufen). Tanta inde consternatio (Daher (entstand) ein so großes Entsetzen; eine derartige Bestürzung; Schrecken; Aufruhr), inrupisse Germanos credentium (der Glaubenden, daß die Germanen eingebrochen seien; durchgebrochen; eingefallen; derjenigen, die glaubten, daß...), ut cuncti (so daß alle) ruerent ad portas (zu den Toren stürzten; in Eile stürzten; eilten), quarum decumana (von denen das Haupttor; das Haupttor dieser (Tore)) maxime petebatur (besonders, hauptsächlich zu erreichen gesucht wurde; man zu erreichen versuchte), aversa hosti (abgewandt dem Feind; weil es vom Feind abgewandt war) et fugientibus tutior (und sicherer für die Fliehenden). Caecina comperto (Nachdem Caecina erfahren hatte) vanam esse formidinem (daß der Schrecken unbegründet (nichtig) war), cum tamen (weil er dennoch) neque auctoritate neque precibus (weder durch sein Ansehen noch durch Bitten), ne manu quidem (nicht einmal durch Gewalt, occ. die bewaffnete Hand; auch: Tapferkeit) obsistere aut retinere militem quiret (sich widersetzen; Widerstand leisten oder das Kriegsvolk zurückhalten konnte; quire, queo, quivi (quii), quitum=können, vermögen), proiectus in limine portae (hingeworfen auf die Schwelle des Tores) miseratione demum (durch Mitleid schließlich; erst durch Mitleid; Mitgefühl; Bedauern), quia (weil) per corpus legati (über den Körper des Legaten=Kommandeurs) eundum erat (gegangen werden mußte; weil man...gehen gemußt hätte; abundierender Konjunktiv), clausit viam (verschloß er den Weg (scil.: für die Fliehenden). Simul tribuni et centuriones (Zugleich (gleichzeitig) die Tribunen und Zenturionen) falsum pavorem esse docuerunt (unterrichteten, erg: ihre Leute, daß der Schrecken ein falscher=grundlos sei; blinder Alarm).---
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Was berichtet unser v. TIPPELSKIRCH?
"...Später lagen sie auf der feuchten Erde unter freiem Himmel; denn auch die Zelte waren verloren gegangen. Hinzu kam das Jammern und Stöhnen der Verwundeten. Hinzu kam die Angst vor dem folgenden Tag.
In solcher gespannten Atmosphäre genügt der lächerlichste Anlaß, um eine Panik auszulösen. Ein Pferd ging durch und rannte über den Haufen, was ihm in die Quere kam. Der Lärm aber ließ die weiter abseits Lagernden glauben, die Germanen griffen an. Die einen liefen zu den Waffen, andere flohen Hals über Kopf zum westlichen Tor des Lagers hinaus. Nur mit größter Mühe gelang es den Tribunen und Centurionen, die Ruhe einigermaßen wiederherzustellen. Von Cäcina selbst berichtet Tacitus, der Oberbefehlshaber hätte sich auf die Schwelle des Tores geworfen, um die Fliehenden aufzuhalten. Da ging wohl die Phantasie mit dem Historiker durch! Was hätte ihm denn in der allgemeinen Aufregung, dazu bei Dunkelheit, ein solcher Versuch eingebracht? Bestenfalls eine breitgetretene Nase-!
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Zwei Positionen stehen sich gegenüber:
1.) Die Story stimmt doch:
Ist es so undenkbar? Der Südländer liebt die Theatralik. Der antike Mensch hat viel stärker auf symbolische Gesten angesprochen als wir heute. Caecina kannte als militärischer Führer die Psychologie der Masse und wußte, wie einfache Soldaten ticken.
Hätte Tacitus, wenn er falsch berichtet hätte, nicht einen Sturm des Protestes ausgelöst und seinen Ruf als seriöser Historiker gefährdet?
2.) Alles Lüge!
Wußte Tacitus, daß dies sowieso niemand mehr überprüfen konnte?
War seine Quelle falsch? Wollte der Informand sich am Caecina für irgend etwas rächen (offene Rechnung u.dergl.)? Oder zahlte Tacitus besser, wenn die Informationen möglichst märchenhaft und spannend waren?
Oder war hier für Tacitus der Wahrheitsgehalt eher nebensächlich und wollte er hauptsächlich Spannung erzeugen, Aufmerksamkeit erregen, unterhalten und moralisieren?
Wie heißt es doch beim Dichter QUINTUS HORATIUS FLACCUS: ARS POETICA, 333 f:
Aut prodesse volunt aut delectare poetae,
aut simul et iucunda et idonea dicere vitae.
=Entweder nützen oder erfreuen wollen die Dichter
oder zugleich sowohl Angenehmes als auch für das Leben Geeignetes sagen.
(Entweder wollen nützen die Dichter oder erfreuen,
oder uns Schönes und Lebensnahes zugleich wohl bescheren.
HORAZ: SATIREN UND EPISTELN, übertragen v. G. DORMINGER, München, 1959 (bei Goldmann), S. 137.)
Nun war Tacitus nicht Horaz. Und ich bin nicht Tacitus!- Dennoch weiß man, daß es antike Historiker mit der Wahrheit oft nicht so genau nahmen.-
So war das halt, damals im Krieg. Da wurde viel erzählt.-
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SIR R
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