Murmillo-Archiv

Dienstag, 17. Juli 2012

DIE ZWEI SPRACHEN DES LATEIN: PARS PRIMA
F. BODMER: "Die Sprachen der Welt" schreibt:
"Während fünf Jahrhunderte gab es zwei Sprachen im römischen Reich, beide Latein genannt. Während die Umgangssprache ständig im Fluß war, blieb die Literatursprache über eine Zeitspanne statisch..."
(F. Bodmer: Die Sprachen der Welt, Köln, Berlin, o.J., S. 362.)
Neben dem Hochlatein der Literatur gab es zu allen Zeiten eine Nebenströmung: die gesprochene Sprache oder das VULGÄRLATEIN von lat. vulgus=Volk, Masse, Menge, auch: Pöbel. Laut DUDEN versteht man unter VULGÄRLATEIN das Latein des Volkes. Dazu BODMER:
"Die Sprache, die sich allmählich durch das ganze Imperium ausbreitete, war nicht das klassische Latein CICEROS. Es war das Latein, wie es vom gewöhnlichen Volk gesprochen wurde. Seit Latein eine literarische Sprache geworden war (im dritten Jahrhundert v. Chr.), hatte sich ein scharfer Unterschied zwischen der Umgangssprache und der Sprache der Gebildeten herausgebildet."
 (ders., S. 361)
Ganz ähnlich äußert sich C. VOSSEN in seinem überaus amüsanten Büchlein "MUTTER LATEIN UND IHRE TÖCHTER". Er unterscheidet darin zwei Sprachebenen:
1.) das offizielle, fixierte Latein (seit CICERO fast unverändert): VOSSEN bezeichnet es als "pompöse Fassade"
2.) das Latein des mündlichen Umgangs (zu Hause, in den Tavernen, auf der Straße).
(C. VOSSEN: Mutter Latein und ihre Töchter, Frankf., 1973, S. 73.)
Der Grammatiker und Rhetoriker QUINTILLIANUS (2. Jh.) betont, daß die gesprochene wie die geschriebene Sprache jeweils eigenen Gesetzen unterliege.
(INSTITUTIO ORATORIA I, 6, 1.)
Wie andere "grammatici" versucht er "die wahre Latinitas" gegen den verderbten "sermo cotidianus, plebeius, vulgaris" zu verteidigen. (Vergeblich: mob rules!)
(Das VL wird auch "sermo rusticus, usualis" oder "pedestris" genannt.)
Wie entstand das VL?
Während das klassische Latein festen Normen folgt, entzieht sich die Volkssprache der Kontrolle durch die Grammatik. Die einfachen Menschen (also fast alle!) ließen sich eher vom VL der Händler und Legionäre beeinflussen als vom Behördenlatein. Der einfache Mann verstand Hochlatein erst gar nicht und befaßte sich damit nur notgedrungen (VOSSEN, S. 74). Das Latein eines CICERO (ganz zu schweigen von HORAZ oder LUKREZ) überstieg ganz einfach den Horizont der großen Masse (wie das ja heute noch so ist). Das VL jedoch kam dem einfachen Mann entgegen, war für ihn anziehender, sprach ihn mehr an, war eben seine Sprache.
Das Problem des VL ist seine (mangelnde) Faßbarkeit. Wir besitzen bedauerlicherweise nicht genug Material zu einer vollständigen Rekonstruktion (BODMER, S. 362).
Was haben wir vorliegen? Folgende Zeugnisse sind auf uns gekommen:
1.) In der Literatur: a) die turbulenten Komödien des PLAUTUS und TERENZ (wahre Fundgruben des VL, allerdings auf literarischer Ebene)
b) Die Satire: PETRONIUS ARBITER: SATYRICON, darin: die berühmte "CENA TRIMALCHIONIS", die Beschreibung einer antiken Fresserei!
2.) Wandkritzeleien (Grafitti), meist boshaften und anrüchigen Inhalts
3.) Grabinschriften (Epitaphe), oft von ungebildeten Steinmetzen
4.) Verfluchungstafeln, sog. "tabulae defixionum"
5.) Papyri
6.) Grammatiker, die fehlerhafte Ausdrücke tadeln
BODMER nennt nun eine Reihe von Wörtern, die in den Schriftdokumenten nirgends erscheinen:
(a.a.O., S. 363)
captiare=jagen
ausare=wagen
cominitiare=beginnen (vgl. das ital. Wort!)
coraticum=Mut (vgl. Ital.)
misculare=mischen
nivicare=schneien
Weiterhin nennt er zwei Hauptcharakteristika des VL:
1.) das VL war weniger stark flektierend
2.) es hatte eine regelmäßigere Satzstellung
(ders., S. 366)
Veränderungen deuteten sich schon früh an. Seit dem 3. Jh. v. war das Kasussystem im Schwinden (Aufgehen des Instrumental im Ablativ, weitgehender Zusammenfall des Ablativ mit dem Dativ, Herabsinken des Lokativ zu einem bloßen Schatten, oft Nichtbeachtung des Vokativ, also doch "Marcus, veni!", nicht "Marce!").
(S. 370)
Anders als die Hochsprache machte das VL reichlichen Gebrauch von Präpositionen. Dadurch wurden die Kasusendungen überflüssig, deren Funktion von den Präpositionen übernommen wurde (S. 370 f.).
Die Präpositionen bringen die Wortbeziehungen viel deutlicher zum Ausdruck als Endungen es vermögen.
Bsp:
rosa   -rosa   -rosa
rosae  -rose   -de rosa
rosae  -rose   -ad/ pro rosa
rosam -rosa   -rosa
rosa    -rosa   -de/ cum rosa
Man erkennt hier ganz deutlich die Tendenz des VL, den Formenreichtum zu vereinfachen, zu reduzieren. Auch die Deklinationen unterliegen dieser Tendenz. So geht die U-Deklination in die O-Deklination über ("domu" wird zu "domo").
Zunehmend wichtig wird die A-Deklination. Zur Verdeutlichung übernimmt "ille" (Demonstrativpronomen) die Funktion des bestimmten Artikels.
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EREC

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