Murmillo-Archiv

Sonntag, 10. Juni 2012

PLINIUS SECUNDUS: EPISTULAE: LIBER I, 9: Der Fluch der Großstadt
Mirum est (Es ist sonderbar), quam (wie; wie sehr) singulis diebus (an einem einzelnen Tag; an jeweils einem Tag) in urbe (in der Stadt) ratio aut constet (meine Rechnung entweder stimmt; ich mit mir ins reine komme; zufrieden bin) aut constare videatur (oder mit mir zufrieden zu sein scheine; oder scheinbar zufrieden bin), pluribus iunctis (wenn man aber mehrere (Tage) zusammennimmt) non constet (ich nicht (mit mir) zufrieden bin). Nam (Denn), si quem interroges (wenn du irgendeinen fragst; coni. potentialis): "Hodie quid egisti (Was hast du heute (so) gemacht; getan; getrieben)?", respondeat (dürfte er wohl antworten): "Officio togae virilis interfui (ich war bei einer feierlichen Anlegung der Männertoga dabei; habe teilgenommen), sponsalia aut nuptias frequentavi (ich habe eine Verlobung oder Hochzeit besucht), ille (jener) me ad signandum testamentum (mich, ein Testament zu unterzeichnen; Gerundiv), ille (jener; ein anderer) in advocationem (um Rechtsbeistand), ille in consilium rogavit (wieder ein anderer bat mich um ein Gutachten)." Haec (Dies) quo die feceris (an dem Tag, an dem du es getan hast), necessaria (notwendig), eadem (dasselbe), si cottidie fecisse te reputes (wenn du überlegst (darüber nachdenkst), daß du es täglich getan hast), inania videntur (scheint nichtig; wertlos (zu sein)), multo magis (um vieles mehr) cum secesseris (wenn du dich (auf das Land) zurückgezogen hast; zurückziehst). Tunc enim (Dann nämlich) subit recordatio (kommt die Erinnerung; der Gedanke): "Quot dies (Wieviele Tage) quam frigidis rebus absumpsi (habe ich mit belanglosen Dingen verbraucht; vergeudet; verplempert)!" (...)
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ratio constat: "eine bei Plinius häufige Redensart"
officium togae virilis: "die Sechzehnjährigen vertauschten am Fest der Liberalien (17. März) die toga praetexta mit der toga virilis; diese Mündigkeitserklärung wurde zu Hause und in der Öffentlichkeit gefeiert (übersetze 'feierliche Anlegung der Männertoga')"
signare testamentum: "auch dieses officium war mit einer Feier verbunden"
advocatio: "Fürsprecher und Leumundszeugen (laudatores) spielten vor Gericht eine große Rolle"
res frigidae: "Dinge, die uns kalt lassen"
Aus: C. Plinius Caecilius Secundus: Briefe: Am Born der Weltliteratur, Reihe B, lat. Sprache, Heft 3; Plinius, Briefe in Auswahl, Einleit. und Anmerk. von Dr. H. Bengl, Kommentar; (Bayerische Verlagsanstalt) Bamberg und Wiesbaden 1967, S. 2.)
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constet; videatur: Die Konjunktive wegen des indirekten Interrogativsatzes.
pluribus iunctis: ablativus absolutus (nachdem; wenn)
iungere, iungo, iunxi, iunctus=verbinden (vgl. Konjunktion; lernt die Stammformen!)
interroges; respondeat: coniunctivus potentialis
interesse+Dativ
sponsalia, ium und iorum, n; nuptiae, arum, f.: pluralia tantum
ad signandum testamentum: zur "Testamentsunterschreibung"; Gerundiv (ohne die Bedeutung der Notwendigkeit; diese tritt gelegentlich hinter dem finalen Charakter zurück; s. STEHLE: Lat. Grammatik)
feceris: Konjunktiv Perfekt: Indir. Fragesatz
haec; necessaria; eadem: nom. pl. n (neutrum).
reputes: coni. pot.; s.o.
reputare: berechnen; bedenken, erwägen
multo magis: ablativus mensurae (auf die Frage: um wieviel?)
cum: hier cum-temporalis
secesseris: von der Form her Konj. Perf. oder Fut. II: wenn du dich zurückgezogen haben wirst; wenn man sich...; dt: Präsens.
secedere; secedo, secessi= beiseite gehen, weggehen, sich zurückziehen (lernt die Stammformen, s.o.!)
absumere, sumo, sumpsi, sumptus=aufbrauchen, verbrauchen; auch: vertun (Stammformen, s.o.!)
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Eine eindringliche Mahnung, sinnvoll mit seiner Zeit umzugehen (vgl. hierzu auch: SENECA: EPISTULAE MORALES, Brief 1: Über den Wert der Zeit). Was heute notwendig (wichtig) ist, ist aus der Distanz betrachtet oft nichtig, besonders wenn man daran denkt, daß es sich um alltäglich (somit banale) Verrichtungen handelt. (SCHOPENHAUER nannte einmal das Leben eine Abfolge von banalen Momenten, unterbrochen durch die seltenen Augenblicke der Kontemplation.- Leider bleiben auch die bei den meisten aus, AdV.) Noch viel deutlicher wird dies, wenn man sich zurückzieht.  Plinius benutzt hierfür das Wort "secedere"=sich (aufs Land) zurückziehen. Er denkt wohl hierbei an sein Landgut Laurentinum bei Ostia. Plinius war nämlich stinkreich und hatte gleich mehrere Landgüter. (Also jammern auf hohem Niveau, mir kommen dieTränen.) Wohl dem, der ein Landgut hat, um sich vom Getriebe der Welt zurückzuziehen!-
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In ähnlicher Weise äußert sich auch SPINOZA: Abhandlung über die Läuterung des Verstandes, Um die Bemühung, zu einer neuen Lebensweise zu gelangen (Incipit):
"Nachdem die Erfahrung mich gelehrt hat, daß alles, was das gemeine Leben gewöhnlich bietet, eitel und unverläßlich ist, und nachdem ich sah, daß alles, wovon und was ich fürchtete, Gutes und Schlechtes nur insofern in sich enthielt, als mein Gemüt davon bewegt wurde, beschloß ich endlich, nachzuforschen, ob es etwas geben mag, was ein wahres Gut wäre..."
Spinoza wollte sich so einer "beständigen und innigen Seelenheiterkeit" erfreuen.
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EREC

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